Fakten & Wissen

Vokabellernen mit Legasthenie

Für viele Menschen mit Legasthenie bzw. LRS ist das Vokabellernen eine besondere Herausforderung. Im Interview gibt uns Lerntherapeutin Helke Voß-Becher Tipps fürs Vokabellernen und erzählt uns, warum sie eine Hängematte in ihrer Praxis hat.
31.10.2021

Lerntherapeutin Helke Voß-Becher führt mit Ihrem Kollegen Frank Tümmler das Lerncenter „Leno“ bei Mainz. Sie unterstützen Kinder mit Legasthenie und LRS, besonders in den Fächern Englisch, Latein und Deutsch. Als Spieleverlegerin hat sie außerdem Lernspiele konzipiert und herausgebracht. Im Interview berichtet sie uns von ihrer Arbeit als Lerntherapeutin und gibt Tipps, wie es mit dem Vokabellernen bei Legasthenie besser klappt.

Liebe Helke, einmal in Kürze für alle, die mit dem Thema noch nicht in Berührung gekommen sind: Was ist Legasthenie?

Die Kinder haben Schwierigkeiten beim Lesen und mit der Rechtschreibung. Was vielen nicht bewusst ist, dass noch mehr dazugehört. Ich zitiere dazu die Definition für Legasthenie des britischen Legasthenieverbands: „Eine Legasthenie bedeutet nicht nur Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben, sondern auch Probleme bei der Informationsverarbeitung, bei der Informationsspeicherung und deren Wiedergabe. Das beeinträchtigt die Merkfähigkeit, die Verarbeitungsgeschwindigkeit, die Wahrnehmung von Zeit sowie das Strukturieren und Segmentieren von Information.“

Was vielen nicht bewusst ist: Legasthenie und LRS sind mehr als ein Problem mit der Rechtschreibung. Auch die Merkfähigkeit ist oft betroffen.

Das halte ich für wichtig: Betroffene schreiben nicht nur falsch und lesen stockend, sondern haben auch Merkschwierigkeiten. Diese Kinder sind keineswegs dumm oder von geringerer Intelligenz. Im Gegenteil, es gibt relativ viele Hochbegabte unter Legasthenikern. Aber sie haben eben häufig Probleme mit der Merkfähigkeit - man kann sich vorstellen, was das für das Vokabellernen bedeutet.

Was sind denn die Herausforderungen für Kinder mit Legasthenie, wenn sie in der Schule Englisch lernen müssen?

Eine große Schwierigkeit ist die Rechtschreibung. Wenn man es genau betrachtet, ist die Rechtschreibung in Englisch katastrophal schwierig - Ausnahmen über Ausnahmen! Die Rechtschreibung muss deswegen anfänglich Wort für Wort gemerkt werden. Erst später schafft es das Unterbewusstsein, sich einige Regeln anzueignen. Die Rechtschreibung lernt man in der Regel automatisch, wenn die Vokabeln geübt werden. Das funktioniert aber nur, wenn ein sogenannter guter Wort-Bild-Speicher vorhanden ist. Aber genau das fehlt vielen Legasthenikern. Wenn ich einen Tisch anschaue, der schreit mir nicht "Tisch" oder "table" entgegen. Man muss ein Bild mit einem Klang und einer Schreibweise verknüpfen. Das ist ein Merkvorgang, der Kindern mit Legasthenie in Englisch wahnsinnig schwerfällt.

💡 Lesetipp: ADHS und Vokabeln lernen - 10 Tipps und Strategien für erfolgreiches und konzentriertes Lernen

Wie kann ich als Bezugsperson oder Elternteil beim Vokabellernen unterstützen, wenn mein Kind Legasthenie hat?

Entscheidend ist, dass die Eltern zu Hause den Druck herausnehmen. Dass sie dem Kind nicht vermitteln, egal wie lange du hier sitzt und verzweifelst, du musst das hinkriegen - denn das führt zu Unlust und zu Verweigerung. Dann ist es wichtig, ein Zeitlimit zu setzen. Wenn die Hausaufgaben ausufern, muss ein Gespräch mit den Lehrern geführt werden. Diese wissen oft gar nicht, wie lange das Kind zu Hause sitzt.

Das Wichtigste für Eltern: Den Druck rausnehmen, Zeitlimits bei den Hausaufgaben setzen und mit Lehrkräften sprechen.

Es ist wichtig, dem Kind zu zeigen: Ich will dir helfen und lass uns Spaß dabei haben. Vorausgesetzt, die Eltern haben die Zeit oder die Geduld dazu - das ist nicht immer so. Das kann so aussehen, dass viele Pausen gemacht werden. Sie sollten etwas beinhalten, worüber das Kind sich freut. Ich habe beispielsweise in meinem Therapieraum eine Hängematte. Dann sitzt das Kind darin, schaukelt gemütlich vor sich hin und wir schauen, wie wir die Vokabeln in den Kopf kriegen. Es gibt kleine Dinge, die einen riesigen Unterschied beim Lernen machen können.

Kind lernt in der Hängematte

Unser Vokabeltrainer, die cabuu-App, wird mittlerweile öfters für Betroffene von Legasthenie empfohlen. Was denkst du, ist der Grund dafür?

Besonders die Jüngeren finden die App großartig. Sie sehen ein Bild, sie machen selbst eine Bewegung mit dem Finger und haben damit die Möglichkeit zu sehen, zu hören, zu lesen, zu schauen. Das ist beim Vokabellernen natürlich ideal! Je mehr Sinne beteiligt sind, desto besser. Die Eltern finden toll, dass man die Vokabeln einscannen kann. Denn in der fünften und sechsten Klasse sind es meist noch die Eltern, die überprüfen, was gelernt werden muss.

Es freut uns, dass die cabuu-App gut ankommt. Es ist wichtig, nicht nur bei Menschen mit Legasthenie, dass möglichst viele Sinne eingebunden werden. So lernt man besser, als wenn die Vokabeln aus dem Vokabelheft oder Schulbuch gelernt werden.

Ja, denn wie findet man die Vokabeln im Buch vor? Man hat Schrift und Schrift. Wenn Legasthenie ein Problem mit Schrift ist, ist das die ungeeignetste Methode, mit dem Buch zu lernen. Daher ist es gut, dass meisten digitalen Apps das Hören miteinbeziehen. Wenn noch Sprechen und Bewegung dazukommt, ist das kaum zu toppen. Es ist schließlich nicht immer jemand dabei, der die Aussprache genau kennt. Da kann man sich auf Apps und Vokabellernprogramme verlassen. Ich finde es allerdings wichtig, dass jemand mit dem Kind zusammen einsteigt, damit der Anfang begleitet wird.

Kind steht in einem Kornfeld

Wie schaffen Kinder es, beim Vokabellernen von Anfang an dranzubleiben - hast du Tipps?

  • 1. Tipp : Lernt regelmäßig! Lernt sie auch, wenn die Lehrkraft sie nicht explizit aufgegeben hat, wenn man beispielsweise einen neuen Text im Unterricht behandelt hat. Dann ist vor dem Vokabeltest nur noch Wiederholen nötig und kein neues Lernen. Fünf bis sieben Vokabeln täglich sind eine gute Menge. Falls es mal mehr sein müssen, sollten die Vokabeln über den Tag verteilt in Blöcken gelernt werden.
  • 2. Tipp: Achtet darauf, wo das Kind in der Klasse sitzt. Es ist gut, wenn Kinder, gerade mit Legasthenie, wenig Ablenkung haben. Es ist auf jeden Fall eine riesige Zeitersparnis für den Nachmittag, wenn man im Unterricht einigermaßen aufpasst.
  • 3. Tipp: visualisieren. Das kommt besonders Kindern entgegen, die gerne mit Bildern arbeiten. Ich nenne dabei ein deutsches Wort, nehmen wir das Beispiel "Feld" und sage dem Kind, stell dir ein schönes Feld vor. Anschließend spreche ich die englische Vokabel „field“ vor. Das Kind wiederholt dann, mit dem Bild im Kopf, die Vokabel.
  • 4. Tipp: für alle, die den Faden beim Vokabellernen verloren haben. Recherchiert im Internet Vokabellisten, wo Wörter nach der Häufigkeit gelistet sind. Nehmt euch die Liste vor und macht noch einen Beispielsatz zur Vokabel dazu. Wenn ihr die ersten 500 Vokabeln gelernt habt, könnt ihr drei Viertel aller Texte lesen. Das klingt zwar erstmal nach vielen Vokabeln, aber viele kennt man davon bereits.
💡 Bonus-Tipp: In unserem Blog findest du viele Vokabellisten zum Ausdrucken und Lernen! Hier ansehen

Super, danke für die Tipps! Als Lerntherapeutin unterstützt du nicht nur Kinder beim Lernen, sondern stehst auch im Kontakt mit Eltern und Lehrkräften. Erzähl uns doch mal, wie deine Arbeit abläuft.

Es gibt Fälle, wo eine Legasthenie vermutet wird, aber noch nicht diagnostiziert wurde. Dann erkundige ich mich erstmal, was genau die Vermutung unterstützt und bitte im Vorfeld Hefte mitzubringen. Ich rede auch mit dem Kind und frage die Eltern, wie lange es zu Hause sitzt, um eine bestimmte Menge an Hausaufgaben zu erledigen. Die Diagnose selbst führt anschließend ein speziell ausgebildeter Arzt, Psychiater oder Psychologe durch. Entweder wir fangen da schon parallel an mit dem Kind zu arbeiten oder warten die Diagnose noch ab.

Sehr wichtig ist die psychologische Begleitung, für die Eltern und Kinder. Wir bauen das Selbstbewusstsein auf und machen Mut.

Bei einer diagnostizierten Legasthenie ist das Wichtigste erstmal eine psychologische Begleitung. Wir bitten die Eltern immer, den Druck herauszunehmen und das Kind aufzufangen. Dann ist es wichtig, mit dem Kind zu reden, was ihm besonders schwerfällt und wie es ihm damit geht, das Selbstbewusstsein aufzubauen und zu stärken. Wir arbeiten schulbegleitend im Einzelunterricht, so können wir viel mehr nachfragen und den Problemen auf dem Grund gehen. Wir systematisieren den Lernstoff so, dass das Kind es besser versteht. Währenddessen ist es immer wichtig, die psychische Verfassung im Blick zu haben und das Kind aufzubauen.

Lehrer hilft Kind im Unterricht

Neben dieser fachlichen Betreuung gehst du auch in den Dialog mit den Eltern und Lehrkräften. Wie sieht das konkret aus?

Ich unterstütze die Eltern dabei, dass das Kind auch in der Schule die Hilfe bekommt, die ihm zusteht. Denn wenn diese Kinder am Anfang ein Wort nicht richtig schreiben können, dann braucht es einen Nachteilsausgleich. Das heißt, ein Kind, bei dem eine Legasthenie diagnostiziert wurde, hat das Recht, zusätzliche Hilfen zu bekommen oder Erleichterungen zu erhalten. Da ist bei Lehrkräften manchmal noch Aufklärungsarbeit nötig und Kompromisse wichtig - in Zusammenarbeit mit den Eltern und der Schule ist das eine gemeinsame Unterstützung für das Kind.

Man merkt, wie wertvoll die Arbeit von Lerntherapeut*innen ist: Ihr seid Ansprechpartner sowohl fürs Kind, als auch für die Eltern und sorgt dafür, dass ein Dialog mit der Schule geführt wird.

Das Schöne ist auch, wenn wir unsere Arbeit gut machen, freut sich jeder: Wir machen die Eltern glücklich, wir machen das Kind glücklich, wir machen die Schule oder die Lehrkräfte glücklich. Das ist toll.

Liebe Helke, danke für deine Einsichten in deine Arbeit als Lerntherapeutin und zum Thema Legasthenie!

Das Interview könnt ihr euch auch auf Youtube ansehen. Hier findet ihr außerdem mehr Infos zu Helke Voß-Becher und Leno.